
Gerade lese ich erneut „Die Letzten ihrer Art“ von Douglas Adams und Mark Carwardine. Der bekannte Science-Fiction-Autor hatte Ende der 1980er Jahre zusammen mit dem Zoologen eine Reise um die Welt zu solchen Tierarten unternommen, von denen Experten glaubten, dass sie womöglich in absehbarer Zeit aussterben könnten, und seine Erlebnisse im typischen Adams-Stil aufgeschrieben. Das Buch ist auch 25 Jahre später das mit Abstand lustigste Buch, das je zu diesem deprimierenden Thema geschrieben wurde, und jeder, der es noch nicht gelesen hat, sollte es noch tun.
Die Situation der Tierarten, die Adams und Carwardine damals beschrieben, ist jedoch nicht mehr dieselbe. In 25 Jahren kann viel passieren, und das ist es auch. Manche Arten – soviel muss ich leider schon hier verraten – sind in der Zwischenzeit tatsächlich ausgestorben, manche noch seltener geworden. Aber es gibt auch durchaus sehr positive Entwicklungen. Ich will daher einmal die Tierarten, die Adams und Carwardine damals aufgesucht haben, in einer Blogserie portraitieren. Dabei werde ich nicht nur versuchen, die Entwicklungen der letzten 25 Jahre darzustellen, sondern auch alles andere, was mir persönlich bemerkenswert erscheint, aus der Erforschungsgeschichte dieser Arten zusammenzutragen. Ich werde mich dabei einfach an die Reihenfolge der Kapitel aus dem Buch halten, und daher beginne ich mit dem …
Fingertier
(Daubentonia madagascariensis)
Im Jahr 1985 war Adams zusammen mit Carwardine auf die kleine Insel Nosy Mangabe vor der Nordostküste Madagaskars gereist, um für eine britische Zeitung einen Artikel über das Fingertier zu schreiben. Das nachtaktive Fingertier ist eines der bizarrsten Tiere, die man sich vorstellen kann, und das wäre es vermutlich auch ohne die verlängerten Mittelfinger, denen es seinen Namen verdankt. Diese sind nicht nur deutlich länger als die übrigen Finger (mit Ausnahme der Ringfinger) sondern auch spindeldürr, und äusserst beweglich. Es sieht fast aus, als wäre dem Fingertier ein Spinnenbein an die Hand gewachsen. Ausserdem besitzt es je zwei kräftige, immer nachwachsende Nagezähne in Ober- und Unterkiefer, was mehr als unpassend erscheint, da das Fingertier ja kein Nagetier sondern in Wahrheit ein Primat ist. Zusammen mit den riesigen, faltigen Ohren bilden die Finger und die Zähne eine raffinierte Vorrichtung zum Nahrungserwerb, die den Fingertieren seit ewigen Zeiten das Überleben auf der Insel Madagaskar sicherte. Mitte der ’80er Jahre schien ihr Überleben dagegen ganz von der Insel Nosy Mangabe abzuhängen.
Entdeckt hat das Fingertier der französiche Naturforscher Pierre Sonnerat (1748–1814). Auf zwei Reisen nach Süd- und Südostasien hatte er zahlreiche Tier- und Pflanzenarten gesammelt, die in Europa gänzlich unbekannt waren, darunter etliche Paradiesvögel aus Neuguinea, und auf der Rückfahrt von seiner zweiten Reise machte er Station in Madagaskar. 1782 veröffentlichte er einen zweibändigen Reisebericht über diese zweite Reise, und darin machte er die Welt erstmals mit dem Fingertier bekannt. Leider ist Sonnerat auch einer der ersten Wissenschaftsbetrüger der Geschichte, denn unterwegs gelangte er durch Tausch oder Handel auch in den Besitz von Tieren, die weit entfernt der bereisten Gebiete lebten, behauptete aber frech, sie eben dort beobachtet und erbeutet zu haben. Der wissenschaftliche Name des Eselspinguins, Pygoscelis papua, zeugt bis heute von diesem Schwindel. Das Fingertier war jedoch kein Schwindel.
Sonnerat gelangte während seines Aufenthaltes in den Besitz von zwei lebenden Fingertieren, die er Aye-Aye nannte. Die Herkunft dieses Namens ist bis heute zweifelhaft, aber Briten, Amerikaner und Kreuzworträtsellöser nennen das Fingertier immer noch so. Die beiden Aye-Ayes konnten zwei Monate lang mit gekochtem Reis am Leben gehalten werden, bevor sie während der Überfahrt starben. Eines davon gelangte nach Paris ins Museum des Jardin des Plantes, wo es von Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon, dem vielleicht bedeutendsten Zoologen seiner Zeit, untersucht werden konnte. Buffon, der in der ihm eigenen Kühnheit bereits die Koboldmakis mit den Springmäusen vereinigt hatte, stellte das Fingertier auch gleich dazu, bemerkte aber immerhin eine gewisse Ähnlichkeit mit den Halbaffen. Der Deutsche J. C. von Schreber stellte es 1775 dann auch zu den Halbaffen, aber ohne es in natura gesehen zu haben. Johann Friedrich Gmelin, der 1788 eine 13. Auflage von Linnés „Systema Naturae“ herausbrachte, aber die meisten Tiere darin nur aus Büchern kannte, verpasste dem Fingertier den Namen Sciurus madagascariensis und ordnete es somit als Eichhörnchen ein. 1795 schliesslich richtete der Zoologe Étienne Geoffroy Saint-Hilaire eine eigene Gattung, Daubentonia, zu Ehren seines Kollegen Louis Jean-Marie Daubenton, für das Fingertier ein. Es war einfach zu seltsam, um es mit irgend welchen anderen Tieren in einer Gattung zu vereinigen. Dennoch wusste jahrzehntelang niemand so recht, was das Fingertier eigentlich für ein Tier war.
Das lag auch daran, dass für lange Zeit nichts neues über das Fingertier in Erfahrung gebracht werden konnte. Abgesehen von einem Exemplar, das 1844 ebenfalls in das Museum des Jardin des Plantes gelangte, dauerte es bis in die frühen 1860 Jahre, bis ein gewisser H. Sandwith ein lebendes Fingertier erhielt, und es, nachdem es gestorben war, nach London zu dem berühmten Anatomen Prof. Richard Owen schickte, wo es 1862 ankam. Zuvor entdeckte er eher zufällig, wozu die Tiere ihre Nagezähne und ihre bizarren Finger verwenden. Da das Fingertier jede Nacht versuchte, sich aus seinem hölzernen Käfig frei zu nagen, befestigte Sandwith einige Äste im Käfig, damit das Aye-aye sich daran abreagieren konnte. Zufällig waren diese Äste von holzfressenden Käferlarven durchlöchert, und so konnte Sandwith den gesamten Ablauf des Nahrungserwerbs beobachten: Wie das Fingertier mit seinem verlängerten Mittelfinger auf das Holz klopfte, um ein Echo zu erzeugen, das auf die verborgenen Frassgänge der Käferlarven hindeutete. Wie es seine Ohrmuscheln dicht an die Rinde hielt, um auch das leiseste Geräusch aus dem Holz aufzufangen. Wie es mit seinen Zähnen ein Loch ins Holz nagte, und schliesslich den Mittelfinger in das entstandene Loch einführte, die Käferlarve aufhakte, sie hinauszog und dann gierig verschlang.

Anhand des nach London gesandten Exemplars konnte Prof. Owen endlich zeigen, dass das Fingertier tatsächlich ein Primat war, wenn auch ein sehr seltsamer. Es gelangten nun auch Fingertiere in europäische Zoos. A. E. Brehm reiste extra nach London, um das dortige Exemplar zu beobachten. Aber aus der freien Natur drangen weiterhin nur sporadisch Nachrichten nach Europa. Die einheimischen Madegassen waren mancherorts gut mit dem Fingertier vertraut, mancherorts hatten sie noch nie eines gesehen. Manche Völker hielten die Aye-Ayes für Verkörperungen ihrer Vorfahren, andere für böse Geister. Manche schlugen jedes Fingertier tot, das sie entdeckten, andere rührten sie nicht an, weil sie einen bösen Zauber fürchteten. Jedenfalls kamen während des gesamten 19. Jahrhunderts nur wenige Fingertiere in die Hände westlicher Forscher.
Dabei blieb es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das Fingertier galt weiterhin als äusserst selten, und nur sporadisch gelangten Berichte über die Art nach Europa und Nordamerika. Während der „Mission Zoologique Franco-Anglo-Américaine à Madagascar“, einer gemeinsam vom Muséum Nationale d’Histoire Naturelle in Paris, vom British Museum of Natural History, London, und vom American Museum of Natural History in Washington in den Jahren 1929–1931 durchgeführten Expedition konnte nur ein einziges Exemplar aufgespürt werden. Das Tier spazierte früh in der Nacht mitten zwischen den Hütten eines Dorfes an der Nordwestküste herum und wurde prompt von einem Einwohner mit einem Fischspeer aufgespiesst.
Für mehr als 25 Jahre blieb das Fingertier daraufhin verschwunden. Man ging ernsthaft davon aus, es könnte ausgestorben sein. Doch im Jahre 1957 gelangen dem französischen Primatenforscher Jean-Jacques Petter und seiner Frau die Beobachtung von zwei Exemplaren im Nordosten Madagaskars. Eine kleine Population schien überlebt zu haben. In den Folgejahren entwickelten Petter, der WWF und die IUCN gemeinsam mit der madegassischen Regierung einen Rettungsplan für das Fingertier, denn man ging den Umständen nach davon aus, dass es unmittelbar vor dem Aussterben stand. Im Jahr 1966 schliesslich wurden 9 Fingertiere eingefangen und auf die nun schon mehrfach erwähnte Insel Nosy Mangabe gebracht. Die Insel ist gut 5 km² gross und unbewohnt, und so wurde sie als Naturschutzgebiet ausgewiesen, nur um eine einzige Art zu retten. Auch wenn 5 km² etwas wenig erscheinen – das Streifgebiet eines einzigen Männchens kann ebenso gross sein -, so entwickelten sich die Tiere doch prächtig und leben bis heute dort. Und so fanden auch Douglas Adams und Mark Carwardine dort „ihr“ Fingertier.
Doch ziemlich genau zu der Zeit, als die beiden Autoren auf Nosy Mangabe waren, begann sich das Bild, das die Wissenschaftler vom Fingertier hatten, zu wandeln. Man hatte geglaubt, die letzten Fingertiere lebten in einem eng begrenzten Gebiet feuchten Primärwaldes an der Ostküste, wo sie auf die Höhenzone unterhalb von 200 m Meereshöhe beschränkt seien und sich, mit der oben beschriebenen Methode, von Insektenlarven ernährten. Nun mehrten sich in den späten ’80er Jahren Beobachtungen von Fingertieren aus anderen Lebensräumen. Zunächst wurden sie im Hinterland entdeckt, in mehr als 1.000 m Höhe. Die Fingertierexperten mussten zu ihrem Erstaunen lernen, dass die Tiere auch in Sekundärwäldern, ja sogar in Kokosplantagen auftauchen konnten. Dabei suchen sie sogar den Erdboden auf, und zwar häufiger als fast alle anderen Lemuren. Immer mehr Fundorte tauchten plötzlich auf, und bis Mitte der ’90er Jahre war klar, dass das Fingertier sowohl an der gesamten Ost- als auch an der Nordwestküste Madagaskars weit verbreitet ist. Es könnte in der Tat sogar eine der am weitesten verbreiteten Lemurenarten überhaupt sein!
Auch stellte man fest, dass sich ihre Ernährung keineswegs auf fette Käferlarven beschränkt, sondern sie im Gegenteil recht opportunistisch vorgehen können. Mal ist ihre bevorzugte Nahrung der Nektar des Baums der Reisenden (Ravenala madagascariensis) (der übrigens auch von Sonnerat entdeckt wurde). Sie tunken einfach ihren Mittelfinger in den süssen Saft und lecken ihn mit blitzschnellen Bewegungen ab. Mal sind es Kokosnüsse, von denen sie 2–3 in einer Nacht aufnagen und mit Hilfe des Mittelfingers austrinken bzw. auslöffeln, dann wieder die Nüsse des Canarium-Baumes. Zahlreiche Früchte, Zuckerrohr, Bambussprossen und Eier ergänzen ihre Nahrung.
Das Fingertier zählt heute nicht mehr zu den am stärksten vom Aussterben bedrohten Primatenarten. Die IUCN stuft es in die zweithöchste Gefährdungskategorie „Endangered“ (stark bedroht) ein. Eine genaue Bestandsschätzung ist nicht möglich, aber die Tiere kommen sicher nur in geringer Dichte vor. Vor allem aber ist das Comeback des Fingertier nicht das Resultat einer echten Bestandserholung, sondern nur unseres weitaus besseren Kenntnisstands. Tatsächlich geht die IUCN davon aus, dass der Bestand des Fingertiers in den letzten 30–35 Jahren um über die Hälfte geschrumpft ist, vor allem durch Lebensraumzerstörung oder weil ihre bevorzugten Nahrungsbäume für Bauholz gefällt werden. Die einzelnen Vorkommen sind immer stärker zersplittert. Und immer noch werden regelmässig Fingertiere von den Einheimischen getötet, weil sie für ein böses Omen gehalten werden, und manchmal auch, weil sie Schäden in Kokosplantagen anrichten.

Mindestens zwei andere madegassische Tierarten haben eine ähnliche Geschichte erlebt. Die Malegasseneule (Tyto soumagnei), eine kleine orangerote Schleiereule, war seit 1937 nur ein einziges Mal, im Jahr 1973, in der Natur gesichtet worden. Dann tauchte im Jahr 1993 ein gefangener Vogel 300 km nördlich des von früher bekannten Areals auf, und in der Folge wurde die Art wieder in weiten Gebieten des östlichen Madagaskar festgestellt. Sie gilt heute nur noch als „Vulnerable“. Der Madagaskar-Schlangenhabicht (Eutriorchis astur) war von 1930 bis 1988 verschollen, bis er dann ebenfalls wiederentdeckt und in die Kategorie „Endangered“ herabgestuft wurde. Von beiden Arten hat man inzwischen Nester gefunden und viel über ihre Biologie gelernt. Alle drei Arten sind Beispiele dafür, wie wenig wir oft über gefährdete Tierarten wissen, und wie dringend nötig dieses Wissen ist, um geeignete Schutzmassnahmen treffen zu können. Die Umsiedlungsaktion der Fingertiere nach Nosy Mangabe wäre wohl nicht notwendig gewesen, hätte man damals mehr über diese faszinierenden Wesen gewusst. Aber dann hätte Douglas Adams vermutlich nie sein wunderbares Buch geschrieben!
Quellen:
Ancrenaz M., Lackman-Ancrenaz I. and Mundy N. (1994): Field Observations of Aye-Ayes (Daubentonia madagascariensis) in Madagascar. Folia Primatologica 62:22–36 (DOI:10.1159/000156760)
Andriaholinirina, N., et al. (2014): Daubentonia madagascariensis. The IUCN Red List of Threatened Species 2014: e.T6302A16114609.http://dx.doi.org/10.2305/IUCN.UK.2014–1.RLTS.T6302A16114609.en. Downloaded on 26 May 2016.
Brehm, A. E. (1890): Brehm’s Tierleben, bearb. Prof. Dr. Pechuel-Loesche, Säugetiere, Erster Band, Biblographisches Institut, Leipzig, Wien. Link.
Elliot, D. G. (1913): A review of the Primates. Vol. 1, American Museum of Natural History. Link.
Harper, F. (1945): Extinct and vanishing mammals of the Old World. Special Publicartion, American Committee for International Wildlife Protection. Link.
Sterling, E. (1994): Taxonomy and Distribution of Daubentonia: A Historical Perspective. Folia Primatologica 62:8–13 (DOI:10.1159/000156758)
sowie Wikipedia.