
Wenn man sich an irgendeinem hinreichend ruhigen und sauberen Küstenabschnitt des Mittelmeers Tauchmaske und Flossen anzieht und ins Wasser geht, dann werden, sobald man sich ein wenig an die Situation gewöhnt und in der unbekannten Umgebung orientiert hat, unter den ersten Fischen, die einem auffallen, mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Meerbrassen sein.
Meerbrassen (Sparidae) sind Fische, die man gerne unterschätzt. Äusserlich betrachtet sind es ganz normale, geradezu prototypische Fische. Von den knapp 160 Arten (Eschmeyer, 2015) (einschliesslich der Schnauzenbrassen, die bislang meist als eigene Familie Centracanthidae aufgefasst wurden) haben viele die passende Grösse für eine gute Mahlzeit, lassen sich leicht mit Netzen, Reusen, Angeln und allen möglichen anderen Geräten fangen, schwimmen besonders in Küstennähe in Schwärmen dicht über Grund und gehören überall, wo sie vorkommen, zu den bevorzugten Speisefischen. Seit insbesondere die Goldbrasse Sparus auratus (man kann die oder der sagen, ich bleibe mal bei die) auch in grossen Mengen in Aquakultur gezüchtet wird, gehören diese vorzüglichen Speisefische unter dem Handelsnamen Dorade auch in Deutschland zum Standardsortiment.

Spektakulär sind nur die wenigsten. Der südafrikanische Petrus rupestris gehört mit seinen bis zu 2 m Länge schon zu den grösseren Meeresfischen. Der ebenfalls südafrikanische Muschelknacker (Cymatoceps nasutus), mit bis zu 1,5 m Länge auch nicht klein, konkurriert mit dem Nasenaffen um den bizarrsten Gesichtserker im ganzen Tierreich. Mangels frei verfügbarer Fotos kann ich nur diesen Link anbieten. Wie man dort erfährt, kann diese Art ein Alter von mehreren Jahrzehnten erreichen. Über die Funktion der Nasenschwellung, die sicher nichts mit dem Geruchssinn zu tun hat, konnte ich nichts in Erfahrung bringen. Besonders bunt sind Meerbrassen auch nicht; eine der farbenprächtigsten Formen ist wohl der (wiederum südafrikanische) Chrysoblephus laticeps. Dagegen weisen viele Arten ein kontrastreiches Zeichnungsmuster auf, das vor vor allem aus schwarzen Streifen oder Flecken auf silbrigem Grund besteht. Durch ihre lebendige Schwimmweise und ihr Auftreten in Schwärmen gehören sie auf jeden Fall zu den attraktiveren Bewohnern des Mittelmeers.

Meerbrassen leben in den meisten wärmeren Meeren, vor allem im Atlantik, im Indischen Ozean und im Westpazifik. Im Ostpazifik kommen seltsamerweise nur drei Arten vor, deren nächste Verwandte im Westatlantik leben, und die vielleicht schon vor der Entstehung der mittelamerikanischen Landbrücke dorthin gelangt sind. Die grösste Artenvielfalt auf engem Raum erreichen Meerbrassen (Überraschung!) in südafrikanischen Gewässern, aber rund 20% aller Arten leben in europäischen Gewässern, und das ist eine ganze Menge. Im Norden erreicht die Gelbstrieme (Boops boops) die Färöer, die Streifenbrasse (Spondyliosoma cantharus) sogar die Lofoten. Ich will mich im Folgenden auf die europäischen Arten beschränken, denn die sind schon interessant genug!
Im Mittelmeer und an den westeuropäischen Küsten sind die meisten Meerbrassen ernährungstechnisch nicht besonders spezialisiert und fressen mit ihrem aus massiven Mahlzähnen bestehenden Gebiss vor allem hartschalige Bodenorganismen wie Muscheln, Schnecken und Krebse. Es gibt aber auch Räuber wie die Zahnbrasse (Dentex dentex), die bis zu 1 m Länge erreichen soll und sich von Fischen ernährt. Die Goldstrieme (Sarpa salpa) ist ein reiner Vegetarier und macht sogar vor der giftigen Caulerpa-Alge im Mittelmeer nicht halt, wodurch sie dann allerdings auch für Menschen ungeniessbar wird. Marmorbrassen (Lithognathus mormyrus) wiederum kauen den Sandboden auf der Suche nach Fressbarem durch. An der türkischen Südküste konnte ich sie dabei beobachten, wie sie mit Meerbarben (Mullidae) und kleinen Butten (vermutlich Bothus podas) Fressgemeinschaften bildeten, in denen der eine von der Arbeit der anderen profitiert.

Aber was Meerbrassen wirklich auszeichnet, ist ihre Sexualität. Der Normalzustand im Tierreich ist ja die Zweigeschlechtlichkeit. Gonochorie sagen die Zoologen dazu. Die ganz überwiegende Zahl der Meerbrassenarten sind jedoch Zwitter, genauer: sequentielle Hermaphroditen, d.h. die Fische ändern im Verlauf ihres Lebens ihr Geschlecht, entweder von männlich zu weiblich oder umgekehrt. Auch das ist eigentlich noch nichts besonderes, zumindest für Meeresfische. Etwa 6% aller Familien von Fischen sind Hermaphroditen, darunter einige sehr artenreiche. Der Anteil der Hermaphroditen an der Artenzahl (statt der Zahl der Familien) aller Fische dürfte also höher sein, und noch höher ist er in Bezug auf Meeresfische, da fast alle Hermaphroditen im Meer leben. Warum das so ist, und warum Geschlechtswechsler im Süsswasser so selten sind – ich habe keinen Schimmer!
Hermaphroditismus kommt in vielen Formen daher. Die meisten Fischarten werden dabei als Weibchen geschlechtsreif und wandeln sich ab einer bestimmten Grösse in Männchen um; man nennt das Protogynie. Bei anderen ist es genau umgekehrt; das ist dann Protandrie. Gelegentlich kommt Androdiözie vor, wobei in einer Population reine Männchen neben Hermaphroditen existieren. Einige Meeresgrundeln (Gobiidae) sind bidirektionale Wandler, die sich scheinbar beliebig (gesteuert durch Umwelteinflüsse) von einem Geschlecht ins andere und wieder zurück umwandeln können. Wieder andere Fischarten sind simultane Hermaphroditen, die männliche und weibliche Geschlechtsprodukte gleichzeitig abgeben können.
Aber innerhalb der meisten Fischfamilien ist die Zwittrigkeit doch weitgehend auf die eine oder andere Form beschränkt. So sind fast alle Lipp- und Papageifische protogyn, kein einziger protandrisch. Alle Zwitter unter den Flachköpfen (Platycephalidae) wiederum sind protandrisch (Sadovy de Mitcheson & Liu, 2008). Bei den Meerbrassen jedoch geht das alles wild durcheinander.
Dort gibt es getrenntgeschlechtliche Arten wie die Zweibindenbrasse (Diplodus vulgaris), protandrische wie die Marmorbrasse, und protogyne wie die Streifenbrasse oder die Schnauzenbrassen (Spicara spec.). Diese Unterschiede sind aber nicht festgemeisselt; bei einer grossen Zahl an Arten gibt es offenbar Ausnahmen. So wandeln offenbar einige Zweibindenbrassen doch ihr Geschlecht, während bei der Geißbrasse (Diplodus sargus), einer protandrischen Art, einige Männchen ihr Geschlecht behalten. Dasselbe, nur mit umgekehrten Vorzeichen, passiert gelegentlich bei Spitzbrassen (Diplodus puntazzo) einer eigentlich protogynen Art. Möglicherweise gibt es sogar simultane Hermaphroditen; für die Rote Fleckbrasse (Pagellus bogaraveo) wird das beispielsweise behauptet.
Wie man sieht, hört die scheinbare Beliebigkeit auch innerhalb von Gattungen und sogar Arten nicht auf. Was aber entscheidet darüber, welchem Sexualtyp eine Art oder ein Individuum innerhalb einer Art folgt? Evolutionsbiologen haben dazu einige Überlegungen angestellt. Die weiteste Anerkennung hat dabei wohl das Size-Advantage Model (SAM) (Ghiselin, 1969) gefunden, aber es gibt noch andere. Vereinfacht ausgedrückt besagt das SAM, dass Fische ihr Geschlecht so wählen, dass sie bei gegebener Körpergrösse den grössten Fortpflanzungserfolg erzielen.
Eine ausführliche Diskussion würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, aber ich will versuchen, kurz zu umreissen, worum es geht. Während die Zahl der Eier, die ein Fischweibchen produzieren kann, durch ihre Körpergrösse begrenzt ist, wobei grosse Weibchen mehr Eier produzieren, hängt die Zahl der Nachkommen, die ein Männchen hinterlässt, sehr stark vom Paarungssystem ab. D.h., je nachdem ob die Fische monogam oder polygyn (1 Männchen – viele Weibchen) leben, paarweise oder im Schwarm laichen, kann der Fortpflanzungserfolg der Männchen von der Grösse völlig unabhängig sein oder je nach Grösse zwischen null und gewaltig gross schwanken. In letzterem Fall z.B. tun sich kleine Fische besser, wenn sie als Weibchen daherkommen, und grosse, wenn sie es als Männchen versuchen, was einen Geschlechtswechsel nahelegt. Für eine ausführliche Darstellung muss ich auf Warner (1984) verweisen, der das Thema ganz anschaulich, wenn auch auf Englisch, darstellt.
Jedenfalls bedeutet das, dass für ein volles Verständnis des Geschlechtswechsels genaue Beobachtungen des Laichverhaltens, möglichst im Freiland, erforderlich sind. Und da ist bei Meerbrassen, zumindest nach meinem Eindruck, noch eine Menge zu tun. Zumindest habe ich weder im Netz noch in Büchern viel brauchbares gefunden. Wir wissen aus Beobachtungen im Aquarium von Plymouth, dass bei der Streifenbrasse die Männchen Nester anlegen, in die mehrere Weibchen ihren Laich ablegen, und diesen bis zum Schlupf der Larven beschützen (Wilson, 1958). Da kleine Streifenbrassenmännchen schlechte Beschützer wären, grosse dafür umso mehr, sollte die Art der Theorie nach protogyn sein, und das ist sie auch. Auch Schnauzenbrassen betreiben eine ähnliche Form der Brutpflege und sind ebenfalls protogyn. Ob dort aber tatsächlich auch mehrere Weibchen mit dem selben Männchen ablaichen, konnte ich nicht herausfinden.

Goldbrassen sind dagegen Schwarmlaicher und sollten eigentlich getrenntgeschlechtlich sein. Beim Schwarmlaichen kommt es für die Männchen eigentlich nur darauf an eine möglichst grosse Spermawolke auszustossen, um das Sperma der Konkurrenten zu verdünnen, und grosse Männchen sind dazu besser imstande als kleine, aber nicht überproportional! Tatsächlich sind Goldbrassen jedoch protandrische Zwitter. Woran liegt das? Bilden sich in den Schwärmen etwa zufällige Paare, die nur für ein paar Sekunden dauern? Dann würde der Laich jedes Weibchens von nur einem Männchen besamt, wobei es egal wäre, wie gross das Männchen ist. Das würde dann tatsächlich Protandrie begünstigen (siehe Warner (l.c., p.131)). Oder ist das SAM in diesem Fall nicht brauchbar?
Die verschiedenen Arten der Meerbrassen sind an den südeuropäischen Küsten nahezu allgegenwärtig, und durch ihre Grösse, ihr Auftreten in Schwärmen, ihre ruhige, elegante Schwimmweise und ihre oftmals kontrastreiche Zeichnung fallen sie jedem Taucher und Schnorchler gleich ins Auge. Dennoch gibt es in ihrem Verhalten noch vieles, über das wir nur ungenügend Bescheid wissen, und den Evolutionsbiologen werden sie noch so manche Nuss zu knacken geben. Ich sehe Meerbrassen ab jetzt jedenfalls mit anderen Augen!
Literatur:
De Mitcheson, Y. S. and Liu, M. (2008). Functional hermaphroditism in teleosts. Fish and Fisheries, 9: 1–43. doi:10.1111/j.1467–2979.2007.00266.x
Erisman, B. E., Petersen, Ch. W., Hastings, P. A. and Warner, R. R. (2013). Phylogenetic Perspectives on the Evolution of Functional Hermaphroditism in Teleost Fishes. Integrative and Comparative Biology, volume 53, number 4, pp. 736–754. doi:10.1093/icb/ict077
Eschmeyer, W. N. (ed.). Catalog of Fishes: Genera, Species, References. (http://researcharchive.calacademy.org/research/ichthyology/catalog/fishcatmain.asp). Electronic version accessed 2015-05-14
Ghiselin, M. T. (1969). The Evolution of Hermaphroditism Among Animals. The Quarterly Review of Biology, Vol. 44, No. 2, pp. 189–208
Warner, R.R. (1984). Mating Behavior and Hermaphroditism in Coral Reef Fishes: The diverse forms of sexuality found among tropical marine fishes can be viewed as adaptations to their equally diverse mating systems. American Scientist, Vol. 72, No. 2, pp. 128–136
Wilson, D. P. (1958). Notes From the Plymouth Aquarium. III.. Journal of the Marine Biological Association of the United Kingdom, 37, pp. 299–307. doi:10.1017/S0025315400023699.