Meerbrassen – wenn Geschlecht kein Schicksal ist

Zweibindenbrasse
Zweibin­den­bras­se (Diplo­dus vul­ga­ris). Autor: Anders Finn Jør­gen­sen. CC-BY-SA 2.0.

Wenn man sich an irgend­ei­nem hin­rei­chend ruhi­gen und sau­be­ren Küs­ten­ab­schnitt des Mit­tel­meers Tauch­mas­ke und Flos­sen anzieht und ins Was­ser geht, dann wer­den, sobald man sich ein wenig an die Situa­ti­on gewöhnt und in der unbe­kann­ten Umge­bung ori­en­tiert hat, unter den ers­ten Fischen, die einem auf­fal­len, mit hoher Wahr­schein­lich­keit auch Meer­b­ras­sen sein.

Meer­b­ras­sen (Spari­dae) sind Fische, die man ger­ne unter­schätzt. Äus­ser­lich betrach­tet sind es ganz nor­ma­le, gera­de­zu pro­to­ty­pi­sche Fische. Von den knapp 160 Arten (Eschmey­er, 2015) (ein­schliess­lich der Schnau­zen­bras­sen, die bis­lang meist als eige­ne Fami­lie Cen­tra­can­thi­dae auf­ge­fasst wur­den) haben vie­le die pas­sen­de Grös­se für eine gute Mahl­zeit, las­sen sich leicht mit Net­zen, Reu­sen, Angeln und allen mög­li­chen ande­ren Gerä­ten fan­gen, schwim­men beson­ders in Küs­ten­nä­he in Schwär­men dicht über Grund und gehö­ren über­all, wo sie vor­kom­men, zu den bevor­zug­ten Spei­se­fi­schen. Seit ins­be­son­de­re die Gold­bras­se Spa­rus aura­tus (man kann die oder der sagen, ich blei­be mal bei die) auch in gros­sen Men­gen in Aqua­kul­tur gezüch­tet wird, gehö­ren die­se vor­züg­li­chen Spei­se­fi­sche unter dem Han­dels­na­men Dora­de auch in Deutsch­land zum Standardsortiment.

Petrus rupestris
Petrus rupes­tris. Autor: Peter Sou­thwood. CC-BY-SA 3.0

Spek­ta­ku­lär sind nur die wenigs­ten. Der süd­afri­ka­ni­sche Petrus rupes­tris gehört mit sei­nen bis zu 2 m Län­ge schon zu den grös­se­ren Mee­res­fi­schen. Der eben­falls süd­afri­ka­ni­sche Muschel­kna­cker (Cymato­ceps nasu­tus), mit bis zu 1,5 m Län­ge auch nicht klein, kon­kur­riert mit dem Nasen­af­fen um den bizarrs­ten Gesichts­er­ker im gan­zen Tier­reich. Man­gels frei ver­füg­ba­rer Fotos kann ich nur die­sen Link anbie­ten. Wie man dort erfährt, kann die­se Art ein Alter von meh­re­ren Jahr­zehn­ten errei­chen. Über die Funk­ti­on der Nasen­schwel­lung, die sicher nichts mit dem Geruchs­sinn zu tun hat, konn­te ich nichts in Erfah­rung brin­gen. Beson­ders bunt sind Meer­b­ras­sen auch nicht; eine der far­ben­präch­tigs­ten For­men ist wohl der (wie­der­um süd­afri­ka­ni­sche) Chrys­oble­phus lati­ceps. Dage­gen wei­sen vie­le Arten ein kon­trast­rei­ches Zeich­nungs­mus­ter auf, das vor vor allem aus schwar­zen Strei­fen oder Fle­cken auf silb­ri­gem Grund besteht. Durch ihre leben­di­ge Schwimm­wei­se und ihr Auf­tre­ten in Schwär­men gehö­ren sie auf jeden Fall zu den attrak­ti­ve­ren Bewoh­nern des Mittelmeers.

Chrysoblephus laticeps
Chrys­oble­phus lati­ceps. Autor: Wil­helm. CC-BY-SA‑2.0

Meer­b­ras­sen leben in den meis­ten wär­me­ren Mee­ren, vor allem im Atlan­tik, im Indi­schen Oze­an und im West­pa­zi­fik. Im Ost­pa­zi­fik kom­men selt­sa­mer­wei­se nur drei Arten vor, deren nächs­te Ver­wand­te im West­at­lan­tik leben, und die viel­leicht schon vor der Ent­ste­hung der mit­tel­ame­ri­ka­ni­schen Land­brü­cke dort­hin gelangt sind. Die gröss­te Arten­viel­falt auf engem Raum errei­chen Meer­b­ras­sen (Über­ra­schung!) in süd­afri­ka­ni­schen Gewäs­sern, aber rund 20% aller Arten leben in euro­päi­schen Gewäs­sern, und das ist eine gan­ze Men­ge. Im Nor­den erreicht die Gelb­strie­me (Boops boops) die Färö­er, die Strei­fen­bras­se (Spon­dy­lio­so­ma can­t­ha­rus) sogar die Lofo­ten. Ich will mich im Fol­gen­den auf die euro­päi­schen Arten beschrän­ken, denn die sind schon inter­es­sant genug!

Im Mit­tel­meer und an den west­eu­ro­päi­schen Küs­ten sind die meis­ten Meer­b­ras­sen ernäh­rungs­tech­nisch nicht beson­ders spe­zia­li­siert und fres­sen mit ihrem aus mas­si­ven Mahl­zäh­nen bestehen­den Gebiss vor allem hart­scha­li­ge Boden­or­ga­nis­men wie Muscheln, Schne­cken und Kreb­se. Es gibt aber auch Räu­ber wie die Zahn­bras­se (Den­tex den­tex), die bis zu 1 m Län­ge errei­chen soll und sich von Fischen ernährt. Die Gold­s­trie­me (Sar­pa sal­pa) ist ein rei­ner Vege­ta­ri­er und macht sogar vor der gif­ti­gen Cau­ler­pa-Alge im Mit­tel­meer nicht halt, wodurch sie dann aller­dings auch für Men­schen unge­niess­bar wird. Mar­mor­b­ras­sen (Litho­gnathus mor­my­rus) wie­der­um kau­en den Sand­bo­den auf der Suche nach Fress­ba­rem durch. An der tür­ki­schen Süd­küs­te konn­te ich sie dabei beob­ach­ten, wie sie mit Meer­bar­ben (Mul­li­dae) und klei­nen But­ten (ver­mut­lich Bot­hus podas) Fress­ge­mein­schaf­ten bil­de­ten, in denen der eine von der Arbeit der ande­ren profitiert.

Marmorbrassen
Mar­mor­b­ras­sen (Litho­gnathus mor­my­rus). Autor: Pie­tro Colum­ba. CC-BY-NC-SA 2.0.

Aber was Meer­b­ras­sen wirk­lich aus­zeich­net, ist ihre Sexua­li­tät. Der Nor­mal­zu­stand im Tier­reich ist ja die Zwei­ge­schlecht­lich­keit. Gono­cho­rie sagen die Zoo­lo­gen dazu. Die ganz über­wie­gen­de Zahl der Meer­b­ras­sen­ar­ten sind jedoch Zwit­ter, genau­er: sequen­ti­el­le Herm­aphro­di­ten, d.h. die Fische ändern im Ver­lauf ihres Lebens ihr Geschlecht, ent­we­der von männ­lich zu weib­lich oder umge­kehrt. Auch das ist eigent­lich noch nichts beson­de­res, zumin­dest für Mee­res­fi­sche. Etwa 6% aller Fami­li­en von Fischen sind Herm­aphro­di­ten, dar­un­ter eini­ge sehr arten­rei­che. Der Anteil der Herm­aphro­di­ten an der Arten­zahl (statt der Zahl der Fami­li­en) aller Fische dürf­te also höher sein, und noch höher ist er in Bezug auf Mee­res­fi­sche, da fast alle Herm­aphro­di­ten im Meer leben. War­um das so ist, und war­um Geschlechts­wechs­ler im Süss­was­ser so sel­ten sind – ich habe kei­nen Schimmer!

Herm­aphro­di­tis­mus kommt in vie­len For­men daher. Die meis­ten Fisch­ar­ten wer­den dabei als Weib­chen geschlechts­reif und wan­deln sich ab einer bestimm­ten Grös­se in Männ­chen um; man nennt das Pro­to­gy­nie. Bei ande­ren ist es genau umge­kehrt; das ist dann Protand­rie. Gele­gent­lich kommt And­ro­diö­zie vor, wobei in einer Popu­la­ti­on rei­ne Männ­chen neben Herm­aphro­di­ten exis­tie­ren. Eini­ge Mee­res­grun­deln (Gobiidae) sind bidi­rek­tio­na­le Wand­ler, die sich schein­bar belie­big (gesteu­ert durch Umwelt­ein­flüs­se) von einem Geschlecht ins ande­re und wie­der zurück umwan­deln kön­nen. Wie­der ande­re Fisch­ar­ten sind simul­ta­ne Herm­aphro­di­ten, die männ­li­che und weib­li­che Geschlechts­pro­duk­te gleich­zei­tig abge­ben können.

Aber inner­halb der meis­ten Fisch­fa­mi­li­en ist die Zwitt­rig­keit doch weit­ge­hend auf die eine oder ande­re Form beschränkt. So sind fast alle Lipp- und Papa­gei­fi­sche pro­to­gyn, kein ein­zi­ger protand­risch. Alle Zwit­ter unter den Flach­köp­fen (Pla­ty­ce­pha­li­dae) wie­der­um sind protand­risch (Sado­vy de Mit­che­son & Liu, 2008). Bei den Meer­b­ras­sen jedoch geht das alles wild durcheinander.

Dort gibt es getrennt­ge­schlecht­li­che Arten wie die Zweibin­den­bras­se (Diplo­dus vul­ga­ris), protand­ri­sche wie die Mar­mor­b­ras­se, und pro­to­gy­ne wie die Strei­fen­bras­se oder die Schnau­zen­bras­sen (Spi­ca­ra spec.). Die­se Unter­schie­de sind aber nicht fest­ge­meis­selt; bei einer gros­sen Zahl an Arten gibt es offen­bar Aus­nah­men. So wan­deln offen­bar eini­ge Zweibin­den­bras­sen doch ihr Geschlecht, wäh­rend bei der Geiß­bras­se (Diplo­dus sar­gus), einer protand­ri­schen Art, eini­ge Männ­chen ihr Geschlecht behal­ten. Das­sel­be, nur mit umge­kehr­ten Vor­zei­chen, pas­siert gele­gent­lich bei Spitz­bras­sen (Diplo­dus pun­taz­zo) einer eigent­lich pro­to­gy­nen Art. Mög­li­cher­wei­se gibt es sogar simul­ta­ne Herm­aphro­di­ten; für die Rote Fleck­bras­se (Pagel­lus boga­raveo) wird das bei­spiels­wei­se behauptet.

Wie man sieht, hört die schein­ba­re Belie­big­keit auch inner­halb von Gat­tun­gen und sogar Arten nicht auf. Was aber ent­schei­det dar­über, wel­chem Sexu­al­typ eine Art oder ein Indi­vi­du­um inner­halb einer Art folgt? Evo­lu­ti­ons­bio­lo­gen haben dazu eini­ge Über­le­gun­gen ange­stellt. Die wei­tes­te Aner­ken­nung hat dabei wohl das Size-Advan­ta­ge Model (SAM) (Ghise­lin, 1969) gefun­den, aber es gibt noch ande­re. Ver­ein­facht aus­ge­drückt besagt das SAM, dass Fische ihr Geschlecht so wäh­len, dass sie bei gege­be­ner Kör­per­grös­se den gröss­ten Fort­pflan­zungs­er­folg erzielen.

Eine aus­führ­li­che Dis­kus­si­on wür­de den Rah­men die­ses Arti­kels spren­gen, aber ich will ver­su­chen, kurz zu umreis­sen, wor­um es geht. Wäh­rend die Zahl der Eier, die ein Fisch­weib­chen pro­du­zie­ren kann, durch ihre Kör­per­grös­se begrenzt ist, wobei gros­se Weib­chen mehr Eier pro­du­zie­ren, hängt die Zahl der Nach­kom­men, die ein Männ­chen hin­ter­lässt, sehr stark vom Paa­rungs­sys­tem ab. D.h., je nach­dem ob die Fische mono­gam oder poly­gyn (1 Männ­chen – vie­le Weib­chen) leben, paar­wei­se oder im Schwarm lai­chen, kann der Fort­pflan­zungs­er­folg der Männ­chen von der Grös­se völ­lig unab­hän­gig sein oder je nach Grös­se zwi­schen null und gewal­tig gross schwan­ken. In letz­te­rem Fall z.B. tun sich klei­ne Fische bes­ser, wenn sie als Weib­chen daher­kom­men, und gros­se, wenn sie es als Männ­chen ver­su­chen, was einen Geschlechts­wech­sel nahe­legt. Für eine aus­führ­li­che Dar­stel­lung muss ich auf War­ner (1984) ver­wei­sen, der das The­ma ganz anschau­lich, wenn auch auf Eng­lisch, darstellt.

Jeden­falls bedeu­tet das, dass für ein vol­les Ver­ständ­nis des Geschlechts­wech­sels genaue Beob­ach­tun­gen des Laich­ver­hal­tens, mög­lichst im Frei­land, erfor­der­lich sind. Und da ist bei Meer­b­ras­sen, zumin­dest nach mei­nem Ein­druck, noch eine Men­ge zu tun. Zumin­dest habe ich weder im Netz noch in Büchern viel brauch­ba­res gefun­den. Wir wis­sen aus Beob­ach­tun­gen im Aqua­ri­um von Ply­mouth, dass bei der Strei­fen­bras­se die Männ­chen Nes­ter anle­gen, in die meh­re­re Weib­chen ihren Laich able­gen, und die­sen bis zum Schlupf der Lar­ven beschüt­zen (Wil­son, 1958). Da klei­ne Strei­fen­bras­sen­männ­chen schlech­te Beschüt­zer wären, gros­se dafür umso mehr, soll­te die Art der Theo­rie nach pro­to­gyn sein, und das ist sie auch. Auch Schnau­zen­bras­sen betrei­ben eine ähn­li­che Form der Brut­pfle­ge und sind eben­falls pro­to­gyn. Ob dort aber tat­säch­lich auch meh­re­re Weib­chen mit dem sel­ben Männ­chen ablai­chen, konn­te ich nicht herausfinden.

Schnauenbrassen
Schnau­zen­bras­se (Spi­ca­ra mae­na). Autor: Anders Finn Jør­gen­sen. CC-BY-SA 2.0.

Gold­bras­sen sind dage­gen Schwarm­lai­cher und soll­ten eigent­lich getrennt­ge­schlecht­lich sein. Beim Schwarm­lai­chen kommt es für die Männ­chen eigent­lich nur dar­auf an eine mög­lichst gros­se Sper­ma­wol­ke aus­zu­stos­sen, um das Sper­ma der Kon­kur­ren­ten zu ver­dün­nen, und gros­se Männ­chen sind dazu bes­ser imstan­de als klei­ne, aber nicht über­pro­por­tio­nal! Tat­säch­lich sind Gold­bras­sen jedoch protand­ri­sche Zwit­ter. Wor­an liegt das? Bil­den sich in den Schwär­men etwa zufäl­li­ge Paa­re, die nur für ein paar Sekun­den dau­ern? Dann wür­de der Laich jedes Weib­chens von nur einem Männ­chen besamt, wobei es egal wäre, wie gross das Männ­chen ist. Das wür­de dann tat­säch­lich Protand­rie begüns­ti­gen (sie­he War­ner (l.c., p.131)). Oder ist das SAM in die­sem Fall nicht brauchbar?

Die ver­schie­de­nen Arten der Meer­b­ras­sen sind an den süd­eu­ro­päi­schen Küs­ten nahe­zu all­ge­gen­wär­tig, und durch ihre Grös­se, ihr Auf­tre­ten in Schwär­men, ihre ruhi­ge, ele­gan­te Schwimm­wei­se und ihre oft­mals kon­trast­rei­che Zeich­nung fal­len sie jedem Tau­cher und Schnorch­ler gleich ins Auge. Den­noch gibt es in ihrem Ver­hal­ten noch vie­les, über das wir nur unge­nü­gend Bescheid wis­sen, und den Evo­lu­ti­ons­bio­lo­gen wer­den sie noch so man­che Nuss zu kna­cken geben. Ich sehe Meer­b­ras­sen ab jetzt jeden­falls mit ande­ren Augen!

Lite­ra­tur:

De Mit­che­son, Y. S. and Liu, M. (2008). Func­tio­n­al herm­aphro­di­tism in tele­osts. Fish and Fishe­ries, 9: 1–43. doi:10.1111/j.1467–2979.2007.00266.x

Eris­man, B. E., Peter­sen, Ch. W., Has­tings, P. A. and War­ner, R. R. (2013). Phy­lo­ge­ne­tic Per­spec­ti­ves on the Evo­lu­ti­on of Func­tio­n­al Herm­aphro­di­tism in Tele­ost Fishes. Inte­gra­ti­ve and Com­pa­ra­ti­ve Bio­lo­gy, volu­me 53, num­ber 4, pp. 736–754. doi:10.1093/icb/ict077

Eschmey­er, W. N. (ed.). Cata­log of Fishes: Gene­ra, Spe­ci­es, Refe­ren­ces. (http://researcharchive.calacademy.org/research/ichthyology/catalog/fishcatmain.asp). Elec­tro­nic ver­si­on acces­sed 2015-05-14

Ghise­lin, M. T. (1969). The Evo­lu­ti­on of Herm­aphro­di­tism Among Ani­mals. The Quar­ter­ly Review of Bio­lo­gy, Vol. 44, No. 2, pp. 189–208

War­ner, R.R. (1984). Mating Beha­vi­or and Herm­aphro­di­tism in Coral Reef Fishes: The diver­se forms of sexua­li­ty found among tro­pi­cal mari­ne fishes can be view­ed as adap­t­ati­ons to their equal­ly diver­se mating sys­tems. Ame­ri­can Sci­en­tist, Vol. 72, No. 2, pp. 128–136

Wil­son, D. P. (1958). Notes From the Ply­mouth Aqua­ri­um. III.. Jour­nal of the Mari­ne Bio­lo­gi­cal Asso­cia­ti­on of the United King­dom, 37, pp. 299–307. doi:10.1017/S0025315400023699.

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